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Mittwoch, 19. Juni 2024

Die Weinfest-Reise, 3. Tag: Stille Wasser sind nass

Kurz vor dem ersten Regenguss


19. Juni 2024


Die Nacht war etwas zu warm. Nicht draußen, aber bei uns im Apartment, das nur durch eine Lärmschutzwand vom vorbeirauschenden Verkehr auf der gut frequentierten B469 getrennt ist. Den Allerwertesten geht es den Umständen entsprechend etwas besser, der Einsatz des neu erworbenen Stiftes ist zwingend.


Beim Frühstück treffen sich die üblichen Verdächtigen: das gestern nach uns angekommene und leicht ausgezehrt wirkende Fahrrad-Pärchen, der POCO-Mann aus Gießen, unser junger Nachbar mit Dutt und Bärtchen, der aussieht, wie derzeit alle aussehen. Und wir, natürlich.


Wir sind, wie immer, spät dran. Wir haben es ja nicht so weit heute.


Um zehn fahren wir dann los, zum Radweg sind es nur ein paar Meter, und schon der erste Kontakt gibt einen Ausblick auf das, was kommen wird: Baustellen.

Aber zuerst geht es auf vertrautem Terrain nordwärts in Richtung Aschaffenburg. Der Weg ist bekannt und in sehr gutem Zustand, zu einigen der passierten Stellen fallen uns Anekdoten ein, wir waren wirklich schon lange nicht mehr mit dem Fahrrad hier.


In Niedernberg hat man die Route verändert und damit Leute wie uns von der (Hauptverkehrs-)Straße geholt. Die Gattin resümiert, dass der Radweg in Deutschland in besserer Verfassung ist als die Autobahnen in Norditalien.


Kurz vor dem Wasserwerk Aschaffenburg ziehen wir die Regenjacke drüber, kurz drauf werden wir umgeleitet. Der alte Main-Radweg wird saniert, deshalb dürfen wir nicht in der Nähe des Flusses fahren, sondern müssen durch die Gewerbegebiete von Nilkheim. Das erinnert uns ebenfalls an unsere Fahrten rund um Bergamo und Brescia.


Ein Bild von einem Schloss


In Richtung Aschaffenburg nehmen wir gleich mal die falsche Brücke. Weiter zur nächsten, das ist die richtige. Am Mainufer geht es weiter in Richtung Kleinostheim, wo uns die nächste Sperrung mit vier Kilometer Umweg erwartet. Der Regen lässt nicht locker und macht mangels Regenhose untenrum nass.


Am Anleger der Fähre in Seligenstadt ist es so leer, wie wir es noch nie erlebt haben. Da es gerade mal halb eins ist, lassen wir den Eis-Kaiser aus und erwerben stattdessen beim ersten Metzger drei Lkw, die wir sofort unter dem kleinen Dachvorsprung vor dem Laden verputzen.


Seligenstadt aus der Perspektive des Metzgers


Die nächsten 33 Kilometer sind frei von Überraschungen: Der Weg ist nicht mehr so gut wie früher, als sowieso alles besser war. Der Regen zeigt sich bis 14 Uhr ebenfalls hartnäckig. Und das Sitzen wird mit jedem Kilometer unangenehmer.


Um 15 Uhr fahren wir über die Honsellbrücke, ein heimatliches Gefühl will sich nicht so recht einstellen. Kurz nach drei sind wir bei unserem Hotel. Unseren bevorzugten Ladeplatz für die Räder kriegen wir diesmal nicht, denn Lidl hat das EG des Hauses komplett gebucht und in seiner Funktion als  Sponsor der Deutschen Fußballnationalmannschaft zum Fußballgucken eingeladen. In der Tiefgarage gibt es keine Steckdosen.


Spargelzeit!


Für 19 Uhr verspricht uns der sehr engagierte Rezeptionist ein Plätzchen im Luggage Room, da sind wir aber leider schon auf dem Weg ins Schauspiel. Wir einigen uns auf den späteren Abend.


Oben reinigen und pflegen wir uns. Da wir schon um sechs aus dem Haus müssen, um vor dem Theater noch etwas zu essen, bleibt nicht mehr viel Zeit für eine Pause.


Gleich sind wir im Hotel


Um kurz nach sechs sitzen wir bei Mille Lire, bestellen uns eine Pizza per dividere und wundern uns darüber, dass im Lokal gleich drei Fernseher das Spiel der GER gegen HUN übertragen. In den nächsten Minuten zeigt sich ein Phänomen, das wir vom digitalen Radio kennen: Eines der Geräte ist schneller als die anderen.


Deshalb schallt es rechts von uns „Tor!“, während links von uns noch torlos geschaut wird. Der Tisch rechts macht daraus ein kleines Spiel und ruft z.B. schon „Abseits!“, während die anderen Gäste noch über den ungarischen Ausgleich erschrecken. Wir trinken schnell noch zwei Caffè und erschrecken über den Preis der großen Flasche San Pellegrino, die wir zur Pizza geleert hatten.


Von der Hanauer Landstraße geht es anschließend per Straßenbahn zum Willy. Am Römer passieren wir die Frankfurter Fanmeile, wo links und rechts der Braubachstraße ordentlich Betrieb herrscht.


Viel Theater, viel Vergnügen


Im Schauspiel erwartet uns „Der Würgeengel“ von Luis Buñuel in einer Überschreibung von PeterLicht und SE Struck. Nach „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ arbeiten sich die Autoren erneut an einem Film von Buñuel ab, bringen ihn mit einfach Mitteln in unsere Zeit, machen es sich am Ende aber ein bisschen zu leicht, indem sie den Krieg als Auslöser aller gesellschaftlichen Verwerfungen darstellen. Das Ensemble macht diese Vereinfachung aber mehr als wett. Die neun Schauspieler sind super drauf, sie spielen, singen und tanzen, als gäb's kein morgen.


Am Ende laufen wir noch bis zum Römer, steigen dort in die Straßenbahn und bringen im Hotel unsere Räder zum Auftanken. Im Luggage Room gibt es tatsächlich die ersehnte Steckdose. In ihr steckt das Kabel eines großen Getränke-Kühlschrank, der in den nächsten Stunden ohne Saft auskommen muss. Zumindest von außen.


Mit jedem Kilometer spürt man, dass die Großstadt näher kommt

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