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Sonntag, 23. Juni 2024

Die Weinfest-Reise, 7. Tag: „Das war der schönste Tag bisher!“

Anfangs macht die Jagst noch einen zahmen Eindruck


23. Juni 2024


Das schwule Pärchen mit dem kleinen Mädchen sitzt ganz hinten rechts und mischt vorsichtig das Frühstück auf. Anfangs lässt sie sich von Papa oder seinem Freund noch zum Buffet tragen und provoziert damit sehr schöne Bilder, z.B. wie ein Mann auf dem linken Arm ein kleines Kind trägt, mit der Hand das Brot hält und sich mit dem Messer in der rechten eine Scheibe davon abschneidet. Später steht sie auf eigenen Beinen und lässt die Herren abwechselnd hinter sich herlaufen.


Nachdem ich blöd wegen der Mitnahme zweier belegter Brötchen gefragt habe, serviert uns die Dame zwischen Rezeption und Frühstück einen Apfel, später schlägt sie ein Luchpaket von 4,50 Euro auf die Rechnung.


Immerhin habe ich endlich meinen wasserdichten Beutel für den Transport der Regensachen und meines Netzteils wiedergefunden, den ich gestern Abend schmerzlich vermisst hatte.


Dich, mein stilles Tal, grüß' ich tausendmal


Um halb elf kommen wir endlich auf die Straße, fahren zuerst nordwärts aus der Stadt hinaus und biegen irgendwann nach Osten auf unsere Tagesstrecke ab.


Wir haben heute etwa 600 Höhenmeter vor uns, den Hauptteil davon am Ende des Weges, deshalb werden wir überwiegend stromfrei fahren. Den Kocher-Jagst-Radweg haben wir 2013 schon mal bewältigt, wir erkennen ihn aber nicht wieder.


Das Wetter ist gut, die Sonne scheint gerne mal, wird aber nicht lästig. Der Weg ist ebenfalls gut, vor allem ist die Umgebung sehenswert. Möckmühl erkennen wir nicht wieder, Berlichingen lädt zur Bio-Pause, und kurz hinter Bieringen finden wir eine Bank zur Mittagspause.


„Er aber, sag's ihm, er kann mich im Arsche lecken.“


Weiter geht es durch kurze Waldstücke und in Schlangenlinien durch Felder und Wiesen. Langsam kommt die Steigung des Tages näher, wir haben aber keine Ahnung, was uns wirklich erwartet.


In Dörzbach fahren wir zum letzten Mal vom Weg ab – das Café des örtlichen Edeka hat geöffnet, da wird doch noch ein Stück Kuchen für uns drin sein, vero? Vor Ort erfahren wir, dass uns dieser Gedanke mit vielen anderen verbindet. Der Laden brummt vor unterzuckerten und unterkoffeinierten Radfahrern.


Sie sehen alle nicht so aus, als hätten sie bereits hohe Distanzen absolviert, trotzdem zweifeln sie hörbar daran, dass ihr Akku den Rückweg noch schaffen wird. Aber man ist vorbereitet: Etwa jede/r Zweite geht mit seinem Akku (mit Griff) und einem Anschlusskabel (oder heißt es Kabelanschluss?) ins Café und ohne wieder raus.


Da wird drinnen wohl auch Strom serviert.


Schöne Lage im schönen Tal, das muss Schöntal sein

Für uns geht es erstmal entspannt weiter, scheint wohl doch nicht so wild zu sein mit dem Anstieg des Tages.

Wenig später kommt ein kurzer Anstieg, dann geht es hinter einem Rennradfahrer geradeaus. Der Kollege ist irgendwie unzufrieden, er kommt nicht recht weg und schaut sich öfter nach uns um. Hinter Rengershausen ist es dann so weit, es geht spürbar bergauf, der Garmin zeigt zwei Kilometer Anstieg an.

Wir drücken aufs Knöpfchen, der Rennradfahrer hat das Nachsehen, aber strampeln müssen wir auch ganz ordentlich auf dem Weg nach oben. Am Ende werden wir mit rund zwei Kilometern Abfahrt nach Stuppach belohnt. Selber treten kommt dabei nicht in Frage, die Strecke ist völlig leer und sehr gut einsehbar, da rollen wir ohne eigenen Beitrag mit fast 60 km/h ins Willinger Tal.


Die Belohnung für zwei Kilometer Anstieg hinter Dörzbach


Durch Bad Mergentheim geht es schnell, was wir sehen, muss man nicht gesehen haben. Es bleiben noch sechs Kilometer bis zu unserem Hotel. Der Radweg führt wirklich direkt vor die Tür.


Das Haus ist auf Radfahrer beeindruckend vorbereitet: großer Fahrradschuppen, 18 Strom-fächer, in denen E-Bike-Akkus geladen werden können. Wir nutzen eines dieser Fächer für unsere Zwecke, klappt auch prima.


Heilige Mutter Gottes, hilf!


Das Haus selbst ist ein Labyrinth von Aufzügen, Gängen, Stufen und Stilen. Ich fahre ein Stück mit einem holländischen Paar, das 12 Tage hier bleiben will, der Gedanke schreckt mich.


Nach Dusche und Pause sitzen wir auf der Terrasse zum Essen. Der Kellner gibt sich Mühe, bringt aber statt des spritzigen Wassers doch die Medium-Variante. Der Silvaner ist absolut nichtssagend, der Acolon zum Jägerpfännle ungenießbar.


Die Küche arbeitet konsequent am Offenbarungseid. Mein Spargelsalat ist eigentlich eine gute Idee: weißer und grüner Spargel mit Erdbeeren in Olivenöl mariniert. Leider hat der Koch Angst vor der eigenen Courage und „ergänzt“ diese Bestandteile durch je vier Tomaten- und Eierspalten. Ohne die wär's wahrscheinlich kein Salat.


Nach dem Jägerpfännle frage ich den Kellner, warum der Koch drei Stücke kurzgebratenen Fleisches nach dem Braten in einer nicht selbst gewonnenen Bratensoße ertränkt. Er lächelt milde, wir suchen Beistand bei der Jungfrau am Ende der Terrasse.


Auf dem Zimmer sehen wir SUI : GER. Da hätte auch manch einer göttlichen Beistand gut gebrauchen können.


Einmal quer durchs Hohenloher Land


Die Weinfest-Reise, 6. Tag: You look great today!

Mehr Regen als man sieht

22. Juni 2024


Beim Frühstück trifft sich die Welt. Im langen Schwarzen mit Schlitz, im Fußballtrikot, im Fahrradtrikot, im (zu) knappen Höschen, im (zu) engen T-Shirt.


Ich stehe am Kaffeeautomaten, und bevor ich loslegen kann, schreibt mir der Automat eine Botschaft: „You look great today!“ Das ist zwar schmeichelhaft, aber zur Sicherheit schaue ich mich erstmal um, ob nicht der Mensch hinter mir gemeint ist.


Da steht aber niemand, also müssen die Worte mir gelten. Ich schaue an mir hinunter, sehe wie das Trikot um Bauch und Hüften spannt und denke mir: „Recht hat sie, diese intelligente Maschine.“ Mit dem Kaffee gehe etwas aufrechter als sonst zu unserem Tisch.


Den zweiten Kaffee hole ich mir an der anderen Maschine. Und tatsächlich: Bevor ich drücken kann, die gleiche Botschaft. Und wieder niemand anderes in der Nähe. Das kann kein Versehen, dass muss die Wahrheit sein.


Nach dem Frühstück packen wir, fahren ins 1. UG, befreien die Räder und fahren nochmal zurück zum Haupteingang. Drinnen gebe ich unsere Keycards zurück, draußen fängt der Regen an, wir machen uns auf.


In der Fußgängerzone kommen wir kaum durch, die Gattin mosert, ich grummle zurück. Ein Mann fortgeschrittenen Alters übernimmt die Mediation – nur wenige Meter nördlich läuft parallel die Fahrradstraße. Damit sind alle zufrieden, wir kommen gut zum Neckar und werden gleich ins Auf und Ab der Wohnstraßen verbannt.


Über Neckargemünd und Wiesenbach geht es weiter durch den Regen. Mal bleiben wir stehen, um etwas gegen den Regen anzuziehen, dann wird es innen zu feucht, und wir halten an, um es wieder auszuziehen. Hinter Hoffenheim (ja, da gibt's tatsächlich ein Dietmar-Hopp-Stadion) wird der Regen so stark, dass wir alles anziehen, was wir haben. Und bis zum Tagesziel nichts mehr ausziehen.


Wir fahren nördlich des Technik-Museums in Sinsheim vorbei, sehen das Stadion der Hoffenheimer nicht und erreichen gegen 14 Uhr die Stadtverwaltung von Grombach, wo wir die morgens geschmierten Brötchen essen.


Die Innenstadt von Bad Wimpfen rüttelt uns ganz schön durch


Der Regen hört nicht auf, die Stimmung trübt sich immer mehr ein. Und dann kommt auch noch der zweite nennenswerte Anstieg des Tages. Die Herzfrequenz wird heute dank neuer Batterie (im Sender, nicht im Herzen) ordnungsgemäß übertragen, bei Bad Rappenau stellen dafür die Leistungsmesser in den Pedalen die Arbeit ein.


Irgendwas is' immer.


Feiner wohnen


Gegen 16 Uhr erreichen wir unser Hotel in Bad Friedrichshall. Die Räder und die Taschen sind so verdreckt, dass wir sie hinter dem Haus erst einmal abspritzen. Gegen halb fünf sind wir in unserem großen Zimmer.


Schöner schlafen


Das Restaurant im Hause hat heute leider nicht geöffnet, das Angebot in der Stadt ist auf den ersten Blick wenig einladend. Aber irgendwas muss der Mensch ja essen, also gehen wir nach sieben mal über die Brücke und schauen, was wir finden können.


Negroni classico und sbagliato


Kurz hinter der Brücke wartet auf der rechten Seite „Laguna“ auf uns. Das ist ein Eiscafé mit Restaurant und nur mäßig befüllt. Wir dürfen uns den Zweiertisch aussuchen und bekommen in der Folge reichlich aufgetischt: Bruschetta, Bolognese, Carbonara und einen Salat. Danach noch einen Schokobecher, ein arosiertes Zitronensorbet und zwei Caffè.


Der Kellner spricht mit sichtbarem Vergnügen deutsch mit uns.


Einen Tisch weiter sitzt eine Gruppe von sechs jungen Leuten mit sehr viel Migrationshintergrund. Ich schaue ihnen eine Weile zu und verabschiede mich mit der Erkenntnis, dass mir mit solchen Menschen um Deutschland nicht mehr bange ist.


Das lässt sie etwas irritiert zurück.


Kurz vor zehn sind wir zurück, nehmen Emil und Erich vom Netz und schauen noch die zweite Hälfte von BEL : ROM. Die Herren machen das sehr gut, wir können uns kaum auf Duolingo konzentrieren.


Im schönsten Regen am Neckar lang

Die Weinfest-Reise, 5. Tag: Ein Moloch nach dem anderen

Raus aus Rheinhessen

21. Juni 2024


Das Frühstück ist in Ordnung, danach räumen wir zusammen, und um kurz nach zehn stehen wir unten und packen die Räder.


Ein Fahrrad affiner Gast wundert sich über die große Nabe in meinem Hinterrad, ich versichere ihm, dass es sich um einen Dynamo handelt. Er zweifelt, wir lösen auf. Das kann er nicht auf sich sitzen lassen und verweist voller Stolz auf sein Piniongetriebe.


Von Guntersblum fahren wir über Alsheim nach Mettenheim, wo wir bei einem Weingut Station machen, dessen Cuvée „Fruits de mer“ wir auf unserer Reise durch den deutschen Norden kennengelernt und bereits einmal haben schicken lassen. Der Winzer freut sich über unseren Besuch, führt uns durch seine Produktionsstätten und will uns nach Aufnahme der Bestellung noch ein Flasche seines Grauburgenders mitgeben.


Für heute müssen wir ablehnen, aber für den nächsten Besuch versprechen wir Besserung.


Über Osthofen geht es weiter in Richtung Worms, hinter Rheindürkheim geht es durchs erste Industriegebiet. Das wird schnell zu einer ernsten Prüfung, denn wo früher ein Weg, eine Straße war, ist heute eine Baustelle, eine Umleitung. Es ist die Hölle, aber wir versuchen, uns zwischen aktueller Karte und erlernten Wegen zu orientieren und kommen einigermaßen durch.


Alte Schönheit nach den neuen Schrecken von Worms

Hinter Worms sieht es zunächst nicht besser aus: alte Industrieanlagen, neue Baustellen und viel Hässlichkeit. In Petersau stehen die feinen Pferdchen draußen, heute wird nicht gearbeitet, nur gefressen.


Dann erreichen wir Ludwigshafen, fahren zuerst an bekannten BASF-Toren und -Parkplätzen vorbei. Nach Tor 12 geht es in Richtung Südosten durch weitere Industrieanlagen. Wir waren gerade in Frankfurt und fühlen uns wie im Osthafen. Die gleichen Firmen, unzählige Container und die passenden Verladeeinrichtungen.


Hafenatmosphäre von Ludwigshafen nach Mannheim


Auf Mannheimer Seite geht es zunächst genauso weiter, dann kommen wir ins Stadtgebiet, fahren durch türkisch-arabische Lebenswirklichkeit und deutsche Parallelgesellschaft. Das sind auch für ehemalige Frankfurter unbekannte Realitäten.


Eine unerwartete und deshalb undokumentierte Baustelle bringt uns dann nochmal kurz aus der Fassung, unser Junior trägt seinen Teil dazu bei. Nach kurzer Mittagspause erreichen wir das Neckarufer, von dem wir die nächsten 15 Kilometer kaum noch weichen.


Überschwemmungsgebiet am Neckar

Unser Hotel erreichen wir bei leichtem Nieseln. Die Dame an der Rezeption schenkt uns ein upgrade auf das reservierte Zimmer, hat aber kein Verständnis für Radfahrer. Steckdosen für notleidende Akkus hat sie nicht. Für das Parken in der Tiefgarage möchte sie 25 Euro berechnen. Alternativ könnten wir ja draußen parken. Ohne Steckdose.


Ich schlage vor, dass wir mal selber schauen und fahre mit der Gattin zur Einfahrt der Tiefgarage. Die Rollgitter sind unten, ich bin kurz davor, ein Ticket zu ziehen, da kommt ein freundlicher Herr der uns vorschlägt, einfach die Tür neben den Gittern zu verwenden – „Wir Radfahrer müssen zusammenhalten.“


Unten suchen wir ohne Erfolg die ganze Ebene nach einer Steckdose ab. Am Ende öffnen wir den Zugang zum Hotel und werden tatsächlich fündig. In den Weiten des Souterrains fristet hoch über dem feinen Teppichboden eine einsame Steckdose ihr Dasein. Wir stellen unsere Räder darunter, verbinden sie mit dem Stromnetz und geben dem Leben der Steckdose einen neuen Sinn.


Dann fahren wir hoch, erklären der Rezeptionistin, dass wir eine gute Lösung gefunden haben und schließen den Check-in ab. Sie fragt nicht nach, sondern wirkt sehr zufrieden, dass sie nicht weiter involviert wird.


Nach dem Essen ist der Neckar nicht weit


Den Tisch fürs Abendessen haben wir in der Altstadt direkt an der Neckarbrücke reserviert. Der Service ist engagiert, das Essen gut. Wir gehen zurück und fühlen uns sehr an Ferrara und Piacenza erinnert. Nebenbei fragen wir uns, warum wir uns über das Weinfest bei uns echauffieren, während die Leute hier jeden Abend Weinfest hoch drei haben.


Zurück im Hotel fahren wir ins U1, sammeln die Kabel und Netzteile ein, fahren aufwärts und lassen den Tag ausklingen. Schrecklich am Tag, erfreulich am Abend.


Deutscher Wein, deutsche Industrie, deutsche Romantik