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Sonntag, 23. Juni 2024

Die Weinfest-Reise, 5. Tag: Ein Moloch nach dem anderen

Raus aus Rheinhessen

21. Juni 2024


Das Frühstück ist in Ordnung, danach räumen wir zusammen, und um kurz nach zehn stehen wir unten und packen die Räder.


Ein Fahrrad affiner Gast wundert sich über die große Nabe in meinem Hinterrad, ich versichere ihm, dass es sich um einen Dynamo handelt. Er zweifelt, wir lösen auf. Das kann er nicht auf sich sitzen lassen und verweist voller Stolz auf sein Piniongetriebe.


Von Guntersblum fahren wir über Alsheim nach Mettenheim, wo wir bei einem Weingut Station machen, dessen Cuvée „Fruits de mer“ wir auf unserer Reise durch den deutschen Norden kennengelernt und bereits einmal haben schicken lassen. Der Winzer freut sich über unseren Besuch, führt uns durch seine Produktionsstätten und will uns nach Aufnahme der Bestellung noch ein Flasche seines Grauburgenders mitgeben.


Für heute müssen wir ablehnen, aber für den nächsten Besuch versprechen wir Besserung.


Über Osthofen geht es weiter in Richtung Worms, hinter Rheindürkheim geht es durchs erste Industriegebiet. Das wird schnell zu einer ernsten Prüfung, denn wo früher ein Weg, eine Straße war, ist heute eine Baustelle, eine Umleitung. Es ist die Hölle, aber wir versuchen, uns zwischen aktueller Karte und erlernten Wegen zu orientieren und kommen einigermaßen durch.


Alte Schönheit nach den neuen Schrecken von Worms

Hinter Worms sieht es zunächst nicht besser aus: alte Industrieanlagen, neue Baustellen und viel Hässlichkeit. In Petersau stehen die feinen Pferdchen draußen, heute wird nicht gearbeitet, nur gefressen.


Dann erreichen wir Ludwigshafen, fahren zuerst an bekannten BASF-Toren und -Parkplätzen vorbei. Nach Tor 12 geht es in Richtung Südosten durch weitere Industrieanlagen. Wir waren gerade in Frankfurt und fühlen uns wie im Osthafen. Die gleichen Firmen, unzählige Container und die passenden Verladeeinrichtungen.


Hafenatmosphäre von Ludwigshafen nach Mannheim


Auf Mannheimer Seite geht es zunächst genauso weiter, dann kommen wir ins Stadtgebiet, fahren durch türkisch-arabische Lebenswirklichkeit und deutsche Parallelgesellschaft. Das sind auch für ehemalige Frankfurter unbekannte Realitäten.


Eine unerwartete und deshalb undokumentierte Baustelle bringt uns dann nochmal kurz aus der Fassung, unser Junior trägt seinen Teil dazu bei. Nach kurzer Mittagspause erreichen wir das Neckarufer, von dem wir die nächsten 15 Kilometer kaum noch weichen.


Überschwemmungsgebiet am Neckar

Unser Hotel erreichen wir bei leichtem Nieseln. Die Dame an der Rezeption schenkt uns ein upgrade auf das reservierte Zimmer, hat aber kein Verständnis für Radfahrer. Steckdosen für notleidende Akkus hat sie nicht. Für das Parken in der Tiefgarage möchte sie 25 Euro berechnen. Alternativ könnten wir ja draußen parken. Ohne Steckdose.


Ich schlage vor, dass wir mal selber schauen und fahre mit der Gattin zur Einfahrt der Tiefgarage. Die Rollgitter sind unten, ich bin kurz davor, ein Ticket zu ziehen, da kommt ein freundlicher Herr der uns vorschlägt, einfach die Tür neben den Gittern zu verwenden – „Wir Radfahrer müssen zusammenhalten.“


Unten suchen wir ohne Erfolg die ganze Ebene nach einer Steckdose ab. Am Ende öffnen wir den Zugang zum Hotel und werden tatsächlich fündig. In den Weiten des Souterrains fristet hoch über dem feinen Teppichboden eine einsame Steckdose ihr Dasein. Wir stellen unsere Räder darunter, verbinden sie mit dem Stromnetz und geben dem Leben der Steckdose einen neuen Sinn.


Dann fahren wir hoch, erklären der Rezeptionistin, dass wir eine gute Lösung gefunden haben und schließen den Check-in ab. Sie fragt nicht nach, sondern wirkt sehr zufrieden, dass sie nicht weiter involviert wird.


Nach dem Essen ist der Neckar nicht weit


Den Tisch fürs Abendessen haben wir in der Altstadt direkt an der Neckarbrücke reserviert. Der Service ist engagiert, das Essen gut. Wir gehen zurück und fühlen uns sehr an Ferrara und Piacenza erinnert. Nebenbei fragen wir uns, warum wir uns über das Weinfest bei uns echauffieren, während die Leute hier jeden Abend Weinfest hoch drei haben.


Zurück im Hotel fahren wir ins U1, sammeln die Kabel und Netzteile ein, fahren aufwärts und lassen den Tag ausklingen. Schrecklich am Tag, erfreulich am Abend.


Deutscher Wein, deutsche Industrie, deutsche Romantik

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