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Mittwoch, 8. August 2012

25. Mai 2012, der sechzehnte Tag: Toulouse–Sérignac-sur-Garonne, 133,83 km

„Was ist denn das für ein Moloch?“


Wir wiederholen das leckere Frühstück vom Vortag und verabschieden uns anschließend gefühlsduselnd und langatmig von unserer Gastgeberin. Sie gibt uns noch die grobe Richtung vor – am Fluss lang, dann der Allée de Barcelone nordwestlich folgend – und den Hinweis, dass es am Ende etwas unübersichtlich werden könnte.


Besagter Hinweis erweist sich vor Ort als durchaus berechtigt, denn wo die Allée aufhört, treffen sich praktisch alle Wasserwege der Stadt: Wir kommen entlang des Kanals von Südosten, aus östlicher Richtung schwappt der Canal du Midi heran, im Westen fließt die Garonne, und wir finden unsere Fortsetzung in Richtung Norden nicht: den Canal Latéral à la Garonne. Was die Suche erschwert, sind sechs gut befahrene städtische Straßen, eine Autobahn mit vier Auf- bzw. Ausfahrten und der Port de l'Embouchure, der alle Kanäle in seinem großen Becken auffängt.


Den Sender meines Pulsgurtes, den ich seit vorgestern Abend (Castelnaudary) vermisse, habe ich übrigens nicht wiedergefunden. Ich fahre also weiter unter Überlast.


Grober Überblick über unsere ersten 25 Tageskilometer

Unser Herumirren fällt einer ortskundigen Radfahrerin auf, sie nimmt uns mit über die Ponts Jumeaux und entlässt uns auf der anderen Seite mit der klaren Anweisung, nur noch geradeaus zu fahren. Da können wir auf den folgenden Kilometern gar nichts falsch machen, denn die Route führt schnurgerade entlang der dunklen Brühe des Kanals.

Außer uns ist kaum jemand auf der Strecke, die Piste wechselt immer wieder mal von der einen auf die andere Seite. Und die Temperatur steigt.

Hier muss man niemand nach dem Weg fragen

Wir passieren weitläufige Gewerbegebiete und Schienenanlagen, sehen rechts oben die Vororte, die besser verdienenden Mitarbeitern des loklalen Flugzeugbauers als Ghetto dienen und erreichen irgendwann Montech, wo wir ein Baguette erstehen.

Gegessen wird es in Castelsarrasin, zunächst an einem heißen und sonnigen Platz rechts des Kanals, nach der Mahlzeit fällt uns dann auf, dass es auf der anderen Seite viel lauschiger, schattiger und freundlicher gewesen wäre. Also siedeln wir um, schauen den Bewohnern der anliegenden Boote beim Nichtstun zu und verlängern die Pause ohne weitere Nahrungsaufnahme.

Mittags: Blick nach dem Essen

Nachmittags: Fahrt über den Tarn. Wenn du kippst, dann bitte nach rechts

Wo sich Tarn, Garonne und Kanal begegnen: Moissac

In mehr oder minder regelmäßigen Abständen sehen wir im 90-Grad-Winkel abgeknickte Rohre im Wasser stehen und vermuten sofort illegale Abwassereinleitungen. Irgendwann geht uns dann auf, dass es Wasserentnahme-Leitungen für die Obstbauern sind, die sich unter solch flockigen Namen wir Fructi-Garonne, Du Chemin des Sables oder Europlant am Kanal angesiedelt haben und ihn als Bewässerungssystem für ihre Äpfel, Birnen, Pflaumen und sonstigen Erzeugnisse nutzen.

In Valence gönnen wir uns einen Besuch im Supermarkt und im Café unter schattigen Arkaden einen kleinen Braunen, den die Kellnerin samt Internet-Passwort serviert – das gäb's zu Hause nicht. Die Temperatur steigt immer noch!

Sieht kühler aus als es ist: Valence

Die letzten Kilometer bis nach Agen ähneln einer mittleren Tortur. Es wird immer heißer, der Schatten entlang des Weges nimmt ab, und als wir endlich über eine große Brücke im Zentrum der Stadt ankommen, nimmt Madame mir die Worte aus dem Mund: „Was ist denn das für ein Moloch?“

Hier wollen wir nicht bleiben. Da nützt es der Stadt auch nichts, dass sie Francis Cabrel zu ihren Söhnen zählt. Also blättern wir am Fuß der Brücke in unserem Hotelverzeichnis und finden die nächste Möglichkeit in 25 Kilometern Entfernung. Das Haus hat noch ein Zimmer frei, wir buchen es, suchen uns anschließend den Weg quer durch die Stadt an den Kanal (c'est très compliqué) und fahren recht wortkarg an endlosen Pflaumen-Plantagen vorbei in Richtung Westen.

Die Früchte werden unter hohen Plastikdächern aufgezogen, die sicher ebenso wirksam wie Gewächshäuser sind, sich dank ihrer filigranen Bauweise aber nicht so monströs in die Landschaft platzieren. Mit zunehmender Strecke scheint der Weg schneebedeckt: Irgendein Baum blüht, was das Zeug hält, und da wir in Toulouse alle beweglichen Teile frisch gefettet haben, sitzen die während der Fahrt aufwirbelnden Samen bald in Klumpen auf Schaltung, Naben, Bremsen usw. Nach zehn Kilometern müssen wir anhalten und das Zeug mit großen Blättern abwischen, um die Fahrt fortsetzen zu können.

Kurz vor dem Schneefall

Im Hotel angekommen, erfreuen wir uns an der tollen Umgebung und dem erfreulichen Zustand des alten Gemäuers, aber schon beim Auspacken ereilt uns der nächste Schicksalsschlag: Der Apfelsaft in Mos Tasche ist teilweise ausgelaufen und hat u.a. ihre helle Hose und ihre beste Bluse kontaminiert.

Wir waschen alles aus, so gut es geht, und gehen dann essen. Auch hier haben die Eigner mehr richtig als falsch gemacht. Die Terrasse ist ein Traum, der Wein schmeckt hervorragend, es gibt Maki sud-ouest, für das eine hauchdünn geschnittene Entenbrust gerollt und mit Foie gras und Pflaume gefüllt wird.

Die Vorhersage verspricht für morgen tolles Wetter, nach mehr als 130 Tageskilometern haben wir uns etwas Ruhe verdient, und das Hotel hat einen Pool. Wir buchen eine weitere Nacht und geben die vom Apfelsaft versauten Klamotten zum Waschen an der Rezeption ab.

Alle schlafen gut.