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Samstag, 28. Mai 2022

Deutschland ohne e – die 16. Etappe: Wer den Wind schmäht, wird Sturm ernten

So fängt ein vielversprechender Tag an ...

Der Wind hat sich für uns gedreht. Wir fahren heute weiter von West nach Ost, er bläst mit. Leider sieht es schon morgens so aus, als würde er nicht nur Luft mitbringen.


Schon bei der Ausfahrt aus Wismar zeigt sich zudem, dass wir heute nicht ständig nach Osten, sondern immer wieder mal in eine der sonstigen Himmelsrichtungen fahren. Und das verändert natürlich auch den persönlichen Bezug zum Wind.


Die ersten Kilometer geht es nordwärts, der Wind kommt von links, und er meint es ernst. Da bringen auch die netten Gespräche mit westfälischen Rentnern und dem Hamburger Ehepaar auf dem Weg nach Warnemünde wenig Linderung. Letztere klären uns aber ganz freundlich über den wertvollen Zusatznutzen auf, der ihre Pedelecs von unseren Reisegefährten unterscheidet: ihre sind so schwer, dass der Wind sie nicht aus der Bahn wirft – egal, woher er weht.


Bis Rerik geht es weiter in nördlicher Richtung. Es regnet immer wieder mal. Es wird stürmisch, statt windisch. Es wird immer kälter. Kurz hinter Mechelsdorf finden wir fürs Mittagessen ein schönes Plätzchen, das alle genannten Nachteile auf Unangenehmste verbindet.


... und so geht er weiter

Zitternd geht's weiter in Richtung Kühlungsborn, das erstens hübsch anzuschauen ist (im Zentrum) und zweitens seinem Namen alle Ehre macht. Alle sind in dicken Jacken am Strand unterwegs, wir schieben weisungsgemäß die Räder entlang der Strandpromenade, vorbei an Imbissbuden, Riesenrad und Vergnügungseinrichtungen aller Art.


Hinter dem Riesenrad versteckt sich noch ein letzter, unrenovierter Prachtbau der Jahrhundertwende, beschmiert, verbarrikadiert, wie aus der neuen Zeit gefallen.


Irgendwann fallen wieder ein paar Tropfen, wir suchen am Ende der Ostseeallee Zuflucht unter einem Vordach des Einkaufszentrums. Die Gattin friert, ich gehe zum nahen Italiener und bitte um Espresso zum Mitnehmen. Das lässt er nicht zu.


Er könne mir natürlich einen Becher mitgeben, aber ich möge doch lieber die Gattin in seine Gelateria bringen, wo es wärmer sei und wir drinnen sitzen könnten. Ich gehe zurück, die Gattin willigt ein, wir schieben die Räder ins Trockne und setzen uns ins Warme. Kaum stehen die Affogati auf dem Tisch, bricht draußen ein Unwetter los: Hagelkörner, sich biegende Bäume und Wassermassen, die von den ausgefahrenen Markisen stürzen.


Es dauert, bis das Theater vorüber ist. Wir danken noch einmal für die freundliche Aufnahme und reisen entlang der geleerten Strandpromenade und über frisch durchweichte Waldwege weiter. Das Meer ist nach wie vor ein Naturschauspiel, man ist hin- und hergerissen zwischen nix wie weg und da will ich sein, um zuzuschauen.


Behind four walls of stone the rich man sleeps
it's time we put the flame torch to their keep


Wenig später erreichen wir im Schlepptau einer Vierergruppe (Vater mit drei sehr gut fahrenden Kindern) Heiligendamm, wo Frau Merkel vor 15 Jahren die politische Weltelite empfing. Wenn man das live sieht, macht man sich seine Gedanken ...


Wir verlassen die Radroute, nehmen den Schnellweg nach Bad Dobermann, auf dem wir uns derart verfahren, dass wir die Ersparnis gegenüber dem längeren Weg wieder verlieren. Entsprechend fertig und frustriert erreichen wir die Ausläufer Rostocks und suchen erfolglos eine Möglichkeit, um die verdreckten Räder zumindest grob zu reinigen.


Auf den letzten Metern schließt eine Gruppe von Cruisern zu uns auf – heiße, selbst geschweißte Räder, feine Mucke und scharfe Kutten. Die Drecknecks aus Hamburg sind auf dem Weg zu einem Treffen am Rostocker Hafen und zeigen sich uns gegenüber von ihrer freundlichsten Seite: „Ich bieg' da vorne gleich links ab, da könnt ihr einfach rechts an uns vorbeifahren.“


Das Rathaus ist oben, das Essen im Keller


Unser Hotel ist eine schwere Enttäuschung zu einem viel zu hohen Preis. Wir duschen usw. und machen uns dann auf den Weg in den Ratskeller, wo es heute ordentliches Essen und am nächsten Wochenende Rostocks legendäre Ü40-Party gibt. Wir wären gern dabei gewesen.


Unsere letzten Kilometer an der Ostsee