Seiten

Mittwoch, 7. Juni 2023

La France avecque ... l'enfer de l'ouest

Frisch gewaschen und in Aufbruchsstimmung


7. Juni 2023


Was mit den Worten „Lass uns doch schnell noch“ anfängt, dauert gerne mal etwas länger. Wir z.B. wollen heute Morgen schnell noch ein Hotel für den heutigen Abend buchen und stellen dabei fest, dass es dort, wo wir hin wollen, gar keine Hotels gibt, die uns gefallen könnten. Da kommt uns in den Sinn, dass wir mit der Abkürzung gestern sehr gut gefahren waren, und wir suchen auch für heute eine schöne Abkürzung. So hat das Frühstück erstmal ohne uns angefangen.


Kurz darauf sitzen wir neben dem ständig telefonierenden Puma-Mann und seiner Frau Adipositas. Er zuckt die ganze Zeit mit dem linken Bein. Wenn ich mal groß bin, werde ich auch nervös.


Gleich von Anfang an fahren wir in tiefem Sand von Sandkasten zu Sandkasten. Am nächsten Ort bleiben wir stehen, schauen ins Meer und überlegen, wie wir auf die Straße kommen, um zumindest mal ein paar Meter zu schaffen. So jedenfalls kann es nicht über 80, 90 Kilometer weitergehen.


Im Angesicht der folgenden zehnprozentigen Abfahrt auf Sand und lockerem Schotter weichen wir umgehend auf die D751 aus. Auch hier geht es schön bergab, und die Gattin ruft von hinten: „Da hat man wenigstens was vom Gefälle.“ Nächster Halt ist Pornic, wo man um elf Uhr im Zentrum schon wieder an Bistrotischen sitzt. Am Hafen fährt ein Ehepaar vorbei, er hat auf dem Gepäckträger eine kleine Kiste montiert. In der Mitte der Kiste steckt ein kleiner, blauer Regenschirm, darunter sitzt der Hund schön schattig.


Das ist real, hat mit der Realität aber wenig zu tun


Weiter geht es auf der D13, wo Schilder auf dem Radweg darauf hinweisen, dass man bitte vorsichtig fahren möge, weil aus den Ausfahrten Autos rauskommen können. Wahrscheinlich gibt’s da ein ähnliches Problem wie bei uns in Deutschland mit den Tempo-130-Schildern. Es sind nicht genug Schilder da, um die Autofahrer auf die Radfahrer hinzuweisen, die hier Vorrang haben.


Die Durchfahrtstraße in La Bernerie-en-Retz wird gerade auf beiden Seiten renoviert. Wir fahren trotzdem durch und der Mann mit dem großen Bagger sagt uns, wir mögen bitte nicht durch den frischen Asphalt fahren. Am Ende der Maßnahme tönt von einer Terrasse beschwingte Musette zu uns herunter. Man hat das Gefühl, man wäre in Frankreich.


Ein breites Angebot an Urlaubsvergnügen


In der Ortsmitte gehen wir bei Carrefour für den Mittag einkaufen. Jamiroquai ist auch da und begleitet unser sommerliches Einkaufsvergnügen musikalisch. Ansonsten suchen wir erfolglos nach Batterien für unsere Pedale.


Ein Stück hinter dem Ort wechseln wir wieder auf die D13, die leider nicht mehr so wenig befahren ist, wie zuvor. Bei Port Collet fahren wir deshalb gerne ab und folgen der D
118 bis Bouin, wo wir vor der Kirche eine 
relativ schattige Bank unterm Baum finden. Hier treffen sich einige Radreisende, und am Ende der Pause kommen wir noch mit zwei Franzosen ins Gespräch, die in Notre-Dame-de-Monts wohnen und gerade auf dem Heimweg von Nantes sind.


Sie nehmen aus der Weinhandlung gegenüber eine Flasche für zu Hause mit, wir wünschen viel Vergnügen damit und erleben, was schlampige Aussprache anrichten kann. Statt vin versteht Madame vent und wundert sich, warum ihr die Deutschen Spaß mit dem Wind wünschen.


Die Kirche im Dorf, Treffpunkt des fahrenden Volks


Unser heutiger Weg für einige Kilometer durch das Marais breton vendéen, eine weitläufige Marsch-Landschaft im Hinterland der Küste, die sichtbar von der Dürre in Frankreich bedroht ist. Die Pegel der sie durchziehenden Kanäle und Seen sind um 30 und mehr Zentimeter gesunken, die damit einhergehende Austrocknung des Bodens führt zu starken Absenkungen, die wiederum Risse und Absenkungen im Asphalt der schmalen Straßen nach sich ziehen. Was die Trockenheit für die Pflanzen und Tiere des Marschlands bedeutet, wird man wohl erst in Zukunft sehen.


In Saint-Jean-de-Monts hat uns dann der Schrecken der Küste wieder.


Es gibt kaum ein unbebautes Stück Land, wo vormittags an den Straßenseiten noch einzelne Häuser standen, dominieren jetzt Wohnblocks, Ferienanlagen, Erlebnisbäder und ähnliche must-haves. Heute ist noch fast alles geschlossen und nichts los, aber vom 1. Juli bis 30. August herrscht hier der gnadenlose Gott des Badeurlaubs.


Wer sich hier nicht wohlfühlt,  hat falsche Vorstellungen von Urlaub


Für uns geht es noch rund 20 Kilometer an der Küste entlang. Die Orte gehen ineinander über, unterscheiden sich aber nicht nennenswert. Unser Hotel hat den leicht abgewrackten Charme der sonstigen Bebauung, wenigstens ist die Rezeption freundlich besetzt.


Nach dem Duschen und Waschen bleibt kaum Zeit für eine Pause. Wir schauen nochmal über die Brücke in die Ortsmitte und gehen am Ende doch lieber auf unserer Seite essen. Die Preise sind reel, die Qualität gut. Um zehn sind wir wieder im  Hotel, morgen sollen die ersten Gewitter kommen.


C'est la Vie

Die Wäsche ist schon fast trocken, von draußen schallt das laute Lachen der gleichnamigen Möwen ins Zimmer herein. Wahrscheinlich wissen sie mehr als wir.


Die zweite Abkürzung, 170 Kilometer gefahren, 210 Kilometer weit gekommen

La France avecque ... la vue de la mer

Überraschende Perspektiven in der Hafen-City


6. Juni 2023


Das Frühstück bei ibis Styles war auch schon besser. Heute gibt's als kostenfreie Zusatzleistung ein Fernsehprogramm, das Menschen bei der Produktion von Radioprogrammen zeigt. Wahrscheinlich nennen sie es „Irgendwas mit Multimedia“.


Garmin leitet uns exzellent durch die Straßen und über die Plätze der Stadt, binnen kurzer Zeit sind wir am Hafen und auf dem Weg in Richtung Mündung.


Bis Le Pellerin erkennen wir nichts wieder und wundern uns über steile Anstiege, lange Abfahrten und überwiegend weniger reizvolle Wege. Aber das ist kein Wunder, 2012 sind wir den Weg in umgekehrter Richtung und vor allem auf der nördlichen Seite des Flusses gefahren.


Das Hotel, in dem wir damals unterkamen, hat sich schwer gemausert. Der Chef war seinerzeit schon sichtlich geschäftstüchtig, jetzt sieht es so aus, als habe er sein Haus peu à peu auf einen zeitgemäßen Stand gebracht und Erfolg damit.


Unser ständiger Begleiter, der EuroVélo 6, wird uns in Kürze verlassen


An den nun folgenden Abschnitt der Strecke erinnern wir uns tatsächlich noch gut. Damals ging es schnurgerade in eine hoffnungslose Zukunft ohne Bleibe für die Nacht. Heute fahren wir schnurgerade in Richtung Atlantik mit der Gewissheit einer guten Adresse für den Abend.


Zwischendurch raubt uns noch ein unverschämter Anstieg die Nerven. Lang, steil und auch mit technischer Unterstützung nicht zu bewältigen. Wir schieben schimpfend hoch und treffen oben auf zwei britische Pärchen unserer Altersgruppe. Sie haben den Schatten eines Hauses genutzt, um wieder zu Atem zu kommen, sind einem Schwätzchen nicht abgeneigt, und so stehen wir eine Zeit zusammen und klären, was wir alten Ausländer hier überhaupt machen: Living our lives in a different country.


Die Zeit der Châteaus ist vorbei, jetzt kommen die Herrenhäuser


Gegen 13 Uhr erreichen wir Paimboeuf, kaufen im Intermarché am Weg ein paar Tomaten und Taschentücher und setzen uns am Loireufer auf eine Bank im Schatten. Die Bank gegenüber hat eine Frau mit ihrem ca. sechsjährigen Sohn belegt, sie grüßt freundlich und verabschiedet sich wenig später auf gleiche Weise. Uns fällt auf, dass Radreisende in Frankreich entweder generell nett behandelt werden oder uns viele freundliche Leute über den Radweg laufen.


Kurze Zeit später erobert ein Pärchen wie wir die Bank: Er lang und dürr, sie nicht. Immer mehr Radreisende kommen vorbei, sie alle finden hier keinen Platz mehr.


Eigentlich schade, ein ganzer Fluss ist am Ende nur noch braune Brühe


Wir entscheiden uns beim Essen dafür, den weiteren Weg abzukürzen, und wechseln deshalb auf die D96 in Richtung Saint-Michel-Chef-Chef. Da kommen die guten Kekse her, da wollen wir sowieso hin! Über die Landstraße kommen wir sehr gut voran, kein Holterdipolter, keine Staubwolke, keine nennenswerten Anstiege.


So geht Radreise heute!


„Partageons la route“ – Autos gehört die Straße, Radfahrer werden an den Rand gedrängt


Die folgenden Orte existieren eigentlich nur, weil es Tourismus gibt. Das sieht man derzeit besonders gut, weil es noch nicht viel Tourismus gibt. Das heißt: Die Geschäfte, Restaurants und Bars sind fast alle geschlossen, die Läden der Häuser sind zu, die Rollos unten.


Auf den Campingplätzen und am Strand herrscht dafür reger Vorbereitungsbetrieb. Es wird neu gebaut (ob das noch rechtzeitig fertig wird?), repariert und natürlich an der Illusion vom Badeurlaub gearbeitet. So fahren z.B. über die Grande plage de Tharon mehrere Lastwagen, die in Nähe der Promenade von einem Bagger befüllt werden und den ans Meer verlorenen Strand mit dem neuem Sand auffüllen.


Neue Wegweiser zwischen Keksen und Abendessen


Für uns geht es noch ein paar Meter weiter nach Préfailles, wo wir in einem sehr guten Touristenhotel unterkommen. Das Haus ist nicht in allerbester Verfassung, was auch an der hohen Beanspruchung durch Wind und Wetter liegen dürfte, dafür schlägt uns wieder die eingangs beschriebene Freundlichkeit entgegen. Die Chefin lässt uns die Räder sowohl vor der Tür mit dem Gartenschlauch vom Staub reinigen als auch in der Lounge aufladen.


Abendessen gibt's hier auch: Austern von direkt gegenüber – die Gattin will abseits der Küste nie wieder welche essen –, hausgemachte Foie gras und Barschfilet bzw. mariniertes Filet vom Rind. Der Wein ist besser als die meisten bisher, die Desserts sing gut, nur der Käseteller macht deutlich, dass wir die Käseregion an der Loire leider verlassen haben.


Hinterher schauen wir der Sonne noch kurz beim Untergehen zu, dann gehen wir aufwärts. Beim Abendessen haben wir festgestellt, dass sich in den letzten zwei, drei Tagen dieses Gefühl völliger Losgelöstheit bei uns eingestellt hat. Wahrscheinlich dauert es einfach enorm lange, bis einem das Päckchen, das man so mit sich rumträgt, von den Schultern rutscht.


Raus aus der Stadt, rein ins Vergnügen