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Sonntag, 24. Juli 2011

22.07. 6ème ètape: Rully–Cuisery (58,94 km, 2:56:22) (Arrêt minute)

„Sind Sie deutsch?“

Alles trocken, bitte weiterfahren!

Das Aufstehen fällt schwer (wie immer), das Frühstück ist gut, der Supermarché schräg gegenüber hat alles, was wir brauchen.

Wir wollen über Givry nach Chalon-sur-Saône fahren, unterwegs fragen wir zwei Herren, die sich mit dem Bau einer niedrigen Grundstückseinfassung beschäftigen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Die Frage führt zu kontroversen Einschätzungen, am Ende setzt sich der Dickere durch. Er hat gesehen, dass wir mit drei Kettenblättern vorne fahren, die Fahrt also sowieso „pas de problem“ sein wird. Und schön ist die Strecke nach seiner Meinung auch.

Sie führt vor allem wieder steil bergauf. Vorbei am Château de Rully und mindestens fünf Lagen des Hauses Faiveley, das in der Gegend nicht sonderlich beliebt zu sein scheint. Jede der in Messing gravierten Lagenbezeichnungen ist bereits Zielscheibe eindeutiger Missfallensbekundungen geworden, die Weine weisen neben den Volumenprozenten wahrscheinlich auch einen hohen Bleigehalt auf.
 
Château de Rully, 2011.
Weit verbreitet, weithin ungeliebt.
Woher wir kommen.

Wir kämpfen uns durch bis Mercurey, von dort entlang der Landstraße nach Mellecey, und dann wollen sie uns schon wieder bergauf schicken, aber langsam reicht's. Wir biegen vor Givry nach links ab, landen im zauberhaften Dracy-le-Fort und entdecken dort eine Voie verte, die uns Richtung Chalon-sur-Saône führt.

Nahe Chalon-sur-Saône, nahe Givry ist Frankreich nicht weit.
Auf der alten Bahntrasse nach Chalon-sur-Saône kommen wir zügig voran.

Bei der Einfahrt nach Saint-Rémy beginnt es zu tröpfeln, wir legen einen Zahn zu, um eine nicht weit entfernte Tankstelle als Schutz zu erreichen, doch daraus wird nichts. Die Tropfen werden zu ausgekippten Eimern, und wir erreichen mit Ach und Krach eine kleine Unterführung, in der wir die nächsten zwanzig Minuten darüber nachdenken, wie es wohl sein wird, wenn das Wasser von beiden Seiten kommt und der Pegel steigt.




Als der Regen endlich nachlässt, fahren wir rechts hoch und sehen, dass die Tankstelle zu einem großen Intermarché gehört – hätten wir ihn noch vor dem Guss erreicht, hätten wir die Wartezeit zum Mittagessen nutzen können. So kaufen wir erstmal nur ein, fahren dann weiter und sprechen im südlichen Saint-Rémy ein älteres Ehepaar an, um unseren weiteren Weg abzusichern. Sie überlegen kurz, sprechen sich ab, dann erklärt er in sehr angenehmem Französich, wie wir fahren sollen.

Am Ende fragt er, ob wir alles verstanden hätten, als wir bejahen, fragt er nahezu akzentfrei: „Sind Sie deutsch?“ Wir bejahen schon wieder, fragen, warum er so gut Deutsch spricht, und er fängt an zu sprudeln. Deutsch hätte er an der Uni gelernt, inzwischen aber fast schon wieder verlernt, weil ja die Praxis fehle usw. usf. – es ist beeindruckend, wie gut der Mann immer noch Deutsch spricht und wie sehr er sich freut, es mal wieder sprechen zu können. Seine Frau ist sichtlich stolz auf ihren Mann, am Ende wünscht sie „bonne route“ und er „gute Fahrt“. Endlich mal wieder fahren ohne Courage.

Zum Mittagessen bleiben wir am Ufer der Saône, nach Abzug der Wolken könnte die Stadt heute auch Chaleur-sur-Saône heißen. Hinter uns fährt ein deutlich überladenes Rad vorbei, und Mo meint, ich solle aufpassen, damit  ich nicht wie dessen Fahrer ende, der bei seiner letzten Radtour wohl den Absprung verpasst habe. Was sie damit meint, sehe ich erst nach dem Essen, als unser Weg am Besitzer des Fahrrades vorbei führt: Er sieht aus wie eine ausgezeichnet gelungene Kreuzung aus diesem und jenem.

Auf der anderen Seite des Flusses liegt ein gut besuchter Campingplatz, wir fahren durch Saint-Marcel und Épervans, um bei Ouroux-sur-Saône endlich auf die D933 nach Cuisery zu kommen. Die Verkehrsdichte nach dem Mittagessen sowie Menge und Fahrweise der Lkw machen uns nochmal klar, warum wir eigentlich  beschlossen hatten, nie mehr in dieser Richtung auf dieser Straße zu fahren.

Im Hotel werden wir freundlich empfangen und bekommen „comme d'habitude“ die Garage 1. Darin stehen die Räder zwar ziemlich verlassen beieinander, aber es ist eine freundliche Geste. Wir installieren uns in Zimmer 5, Dusche und kurze Pause, gegen sechs gehen wir in die Halle, um der (Büro)Arbeit zu frönen, um sieben folgt der Apéritif, danach das Essen.

Wir gönnen uns Hechtterrine, Kalbsbries und Poulet de Bresse, dazu gibt's den feinen Weißen von Hubert Laferrere aus Lugny.

23.07. Jour de repos: Cuisery–Cuisery (56,58 km, 2:26:18) (Absence de marquage)

„Auch 48 Zähne können beißen.“

So eine Ruhetag ist eine tolle Sache, man kann z.B. morgens länger ruhen. Nach dem Frühstück wollen wir dann mal ausprobieren, wie sich eine Strecke, die wir schon oft mit den Rennrädern gefahren sind, mit den Reiserädern fährt. Diese Strecke ist nicht übertrieben lang, bietet aber alles, was man sich wünschen kann: gerade Stücke, steile Anstiege, lange Abfahrten, Stadtverkehr, kleine Orte und Landschaft satt.

Vor dem Haus fängt uns der Chef persönlich ab, wirft einen fragenden Blick auf die Räder und meint: „Sind die neu oder frisch lackiert?“ Da weiß man: Es ist Zeit, los zu fahren. Wasser kaufen wir gegenüber bei Colruyt, dem einzigen Supermarkt in Cuisery. Der Laden sieht außen aus wie alle, innen aber ganz anders: Es ist ziemlich dunkel (das kann an der Sonnenbrille liegen), es sieht aus wie in einem Lager, die Kassiererinnen müssen stehen und die Waren der Kunden beim Kassieren in einen leeren Einkaufswagen umräumen.

Bei dem Kunden vor mir ist das besonders spannend. Er fährt etwa 15 bis 20 Flaschen Wein und einen riesengroßes Paket Hundefutter spazieren. Abgesehen von dieser sehr speziellen Kombination ist auch die Mischung der Weine beachtlich, es sind keine zwei Flaschen der gleichen Sorte dabei. Wahrscheinlich will er übers Wochenende alle mal durchprobieren und danach entscheiden, welchen er am Montag kauft.

Mo fällt der Mann auch auf. Sie sieht, wie er mit der hochkant im Wagen stehenden Hundefutterpackung aus der Tür kommt und mangels Sicht gegen eine der vier Metallstreben fährt, die den Eingang vom Parkplatz trennen. Das hätte ich auch gern gesehen.

Hier kommt nicht jeder durch.

Los jetzt! Die Strecke verläuft entlang der Seille, gleich im ersten Ort die bei uns weltberühmte „Mauer von Loisy“, die sich mit knapp 1.000 Kilometern Anlauf aber recht gut fahren lässt.

Wo der Bürgermeister von Loisy-sur-Seille seine Arbeitszeit verbringt.
Erinnert an Lübeck, liegt aber an der Seille.

Weiter geht's durch Huilly, wo sich eine Hausbesitzerin sichtlich freut, dass die Tour endlich auch mal bei ihr vorbeikommt. Danach der obligatorische Blick auf die Seille und weiter in Richtung Savigny, das wir so schnell wie noch nie zuvor erreichen. Auffällig bisher ist die über viele Kilometer sorgsam neu asphaltierte Straße, da haben die Gemeinden unsere seit Jahren üppig entrichtete Kurtaxe wohl zusammengelegt und ausgesprochen sinnvoll investiert. Dass die Markierung noch nicht aufgebracht ist, können wir verschmerzen.

Der SPAR-Markt in Louhans ist Anlaufstelle für unseren Einkauf, leider erweist er sich primär als Haltestelle, denn heute kauft Familie Dupont für ihr Fest am Wochenende ein. Salate, Platten, Brote, Kuchen, Chips und weiß der Henker, was sonst noch alles, werden vor, hinter und durch die Kasse rausgetragen. Der Chef persönlich räumt den Einkaufswagen aus und sagt der Kassiererin, was sie eintippen soll – er ist völlig aus dem Maisonchen (vielleicht hat er aber auch nur bei Colruyt gelernt?).

Am Ende hat sich die Aufregung für SPAR jedenfalls gelohnt. Madame Dupont schreibt einen Scheck über 729 Euro aus, da hätte ich mit meinen läppischen 2,70 eigentlich viel länger warten müssen.

Gespeist wird in La Chapelle-Naudé; über Montpont-en-Bresse, Romenay und Ratenelle fahren wir zurück ins Hotel. Insgesamt waren wir fast so schnell wie mit den Rennrädern, sind aber längst nicht so schlapp. Das liegt an der komfortableren Sitzposition, dem größeren Spektrum der Schaltung und den etwas geringeren Spitzen in der Übersetzung.

Konkret heißt das: Bergauf kann man viele Gänge leichter schalten und ist nicht so fertig, wenn man oben ankommt, bergab und auf gerader Strecke hat man mit 48 statt 53 Zähnen auf dem großen Blatt immer noch genug Widerstand, um sehr schnell vorwärts zu kommen und seinen Muskeln weh zu tun. Oder wie Mo es formuliert: „Auch 48 Zähne können beißen.“

Das Abendessen bestreiten wir mit Foie gras, Verrine de lapin und Carré d'agneau. An den Nachbartischen einerseits die französische Mutter mit den beiden Jungs, die sehr interessiert und hoch konzentriert von der Vorspeise bis zum Dessert jedes Detail kosten bzw. aufsaugen, andererseits das niederländische Ehepaar mit dem Jungen und dem Mädchen, die nicht wissen, was sie tun, wie sie es tun und warum sie es tun. Speziell das Mädchen sollte seit mindestens einer Stunde im Bett liegen, und als die Mutter das endlich akzeptiert, will auch der Junge sofort abgelegt werden.

Beim Toilettenbesuch treffe ich vor der Schiebetür einen weiteren Jungen von vielleicht zehn Jahren an, der verzweifelt an der Tür drückt. Ich schiebe sie freundlich zur Seite, er jauchzt vor Freude, stürzt in den Raum und verschwindet gleich hinter der nächsten Schiebetür. Da fällt mir glatt mein Pfadfinder-Motto wieder ein.

Zurück im Restaurant reden wir über die Spitze der Alterspyramide. Am Tisch schräg gegenüber sitzt ein Ehepaar in den Achtzigern, ihm fällt das Leben schon sichtlich schwer, sie erinnert an Mutter Riele und hat die Angelegenheit gut im Griff. Beide essen ausladend und mit sichtbarer Freude an der Sache. Beide sind rank und schlank, das macht uns Mut für die Zukunft.

Als sie aufbrechen, sieht man, wie viel Mühe ihm das Stehen und Gehen macht, sie dagegen versammelt sich am Tisch wie ein Springpferd vor dem Ochser – und raus geht's.

24.07. Jour du Seigneur: Cuisery–Cuisery (17,48 km) (Réservé convoyeurs de fonds)

„Die Kuh ist einfach ruhiger.“

Heute schon wieder Ruhetag, die Salzdiät schlägt an, meine Welt dreht sich wieder in normalem Tempo. Ich setze beim Frühstück gleich noch ein Ei drauf.

Anschließend längeres Telefonat mit unserem Geburtstagskind, danach erneuter Besuch bei Colruyt, ohne Sonnenbrille sieht's drinnen gleich viel heller aus, wir prüfen gemeinsam das Angebot. Vorne stehen die Crands Crus der Region sowie weitere Spirituosen, die wir noch nie gesehen haben. Die Auswahl ist – Achtung! – beachtlich. In den folgenden Gängen das übliche Sortiment, eher ungewöhnlich scheint uns, dass am Fleischstand zwei Metzger live die Nachfrage befriedigen.

Neben den vielen Dingen, die es bei uns nicht gibt, fällt das Fehlen der bei uns üblichen Brotauswahl auf, außerdem steht zwischen den Batterien von Kellog's-Packungen nur eine verschämt dekorierte Packung Haferflocken. In Deutschland kostet sie in dieser Darreichungsform 25 bis 50 Cent, der Franzose muss 1,24 Euro berappen. Kein Wunder, wenn er lieber zu Schnecken und Froschschenkeln greift.

Wir haben heute das Zimmer wechseln müssen, deshalb schaffen wir Käse und Baguette (wenn das mal keine einseitige Ernährung ist!) in die neuen Räumlichkeiten. Etwas Besseres als Rad fahren fällt uns nicht ein, aber es soll leicht schmecken. Also in Zivil nach Tournus, wo am Geldautomaten extra ein Parkplatz für Geldtransporter frei gehalten wird. Das hält uns natürlich nicht davon ab, beim Patissier ein bisschen was Süßes zu erwerben (vor dem Mittagessen!) und uns mit der Beute auf die Kaimauer zu setzen.

Resteverwertung à la française.
Was man für solche Reste machen muss.

Unten liegen mehrere Kanalboote, oben ist nicht besonders viel los. Das liegt einerseits am Wetter, andererseits daran, dass viele Häuser an der Uferstraße zum Verkauf stehen oder wenigstens darauf warten, neu belebt zu werden.

Fernweh kanalisiert.
Alte Substanz, keine neue Verwendung.

Nach dem Backwerk fahren wir bergauf zurück, schauen uns unterwegs in Lacrost eine Gîte an (leider nicht gerade das, was man sich wünscht) und passieren eine stoisch stehende Rinderherde. Wir überlegen, dass wir mit unseren gelben Hemdchen bei Pferden, Hunden und Katzen wesentlich heftigere Reaktionen hervor gerufen hätten. Aber Mo weiß, woran es liegt: „Die Kuh ist einfach ruhiger.“

Im Zimmer essen wir das bisschen Eingekaufte, dann machen wir Pause vom harten Alltag: Mo schläft, ich erhole mich beim Schreiben. Um sieben fangen wir mit dem Packen an. Und dann wird ja schon wieder aufgetischt: vorneweg Hecht-Terrine bzw. ein Dutzend Schnecken, dann Tournedos de Boeuf gefolgt von flambiertem Epoisses und ein paar zusätzlichen Dessert-Kalorien.

Wir sind jetzt wieder à jour, morgen fahren wir ein Stück gen Norden (komische Routenplanung), um ab Chalon-sur-Saône kurz westlich und dann wieder südwärts abzubiegen. Der nächste längere Aufenthalt ist in der nördlichen Auvergne geplant, ab dort beradeln wir völliges Neuland.

Seien wir gespannt ...

21.07. 5ème ètape: Nuits-Saint-Georges–Rully (50,47 km, 3:08:55) (Boue par orage)

„Admirez le paysage!“

Da wir das Frühstück noch von gestern kennen, fahren wir heute ohne los. Im Ort gönnen wir uns erstmal zwei Croissants, während Mo sie kauft, telefoniere ich mit meiner Ärztin wegen des nichtendenwollenden Schwindels am Morgen, sie diagnostiziert Salzmangel und verordnet mir ein Päckchen Salzstangen.

Im Café du Centre führen wir jeder ein 3-Euro-Frühstück plus Café au lait zu, irgendwer in der Nähe schenkt uns einen Internetzugang, so dass auch die Büroarbeit leicht von der Hand geht. Zwei Handwerker bringen über den Schaufenstern der lokalen Sparkasse auf hellgrauem Grund eine hellgrauen Folie an – da muss wirklich jeder Handgriff sitzen.

Wir kennen den Weg, denn es geht schon wieder nach Beaune. Salzbrezeln bei Casino (ob die auch wirken?), gleich essen nahe der Fußgängerzone, sprachlich alles wie gehabt, aber gestern hatten wir mehr Glück mit dem Publikum.

Schön stehenbleiben!

Diesmal fahren wir den Weinbergweg andersrum, er wird davon nicht weniger schön. Mittagessen oberhalb von Puligny-Montrachet, von dort weiter über Chassagne-Montrachet nach Santenay.

Hinauf ins Vergnügen.
Over the hills and far away.
Wer A trinkt, ...
... muss auch B trinken.
Zum Mittagessen gibt's Panorama du jour.
Anschauen umsonst, probühren nur gegen Gebühren.

In Chassagne-Montrachet wird dem geneigten Gast übrigens nichts mehr geschenkt. Die Weinprobe in der örtlichen Caveau Municipal wird von einem Asiaten betreut, der mit vielen Besuchern in seiner Muttersprache spricht. Für zehn Euro darf man vier Weine verkosten, die Highlights der umfangreichen Karte sind bei diesem Angebot leider exkludiert, sie kosten bis zu 285 Euro. Uns bietet der Kollege freundlich ein Wasser an, wir verabschieden uns mit dem Hinweis, dass wir die Weinprobe lieber aufs nächste Mal verschieben.

Da kommen wir mit dem Auto und können mehr trinken.

Von Santenay fahren wir über Remigny und Changy nach Bouzeron, wo es eine Querverbindung nach Rully, unserem heutigen Zielort, geben soll. Die Straße ist nach heftigen Regenfällen stark verschmutzt, bis in den Ort kommen wir trotzdem gut. In Bouzeron eine gute Nachricht: Es gibt ein Schild nach Rully. Die schlechte Nachricht: Es geht steil bergauf. Wir fahren am Haus einer freundlichen Dame vorbei, freundlich deshalb, weil sie uns auf Anfrage gerne erklärt, dass wir auf dem richtigen Weg sind, und weil sie sich offensichtlich freut, wenn sich Radler bei ihr vorbei quälen.

Sie sagt, dass es noch wesentlich steiler werden wird, und rät uns, bei Bedarf unbedingt zu schieben. Dann könnten wir auch mal stehenbleiben und die Landschaft bewundern.

Unten Bouzeron, oben wir.

Wir fahren wieder ein Stück, machen Pause, auf einmal kommen von oben zwei Menschen auf Klapprädern. Sie ist vorn, sie bremst, sie zückt eine Karte und sagt: „Can you tell us where we are?“. Von der Sprache müsste sie eindeutig aus Beaune kommen, aber das ist die andere Richtung. Wir zeigen ihr, wo wir sind, sie freut sich, auf dem richtigen Weg zu sein, und bleibt mit ihrem Mann für ein Schwätzchen stehen.

Das Paar kommt aus Schweden, ist mit dem Boot auf dem Kanal unterwegs und macht gerade mal einen kleinen Ausflug. Sie sagen, dass es noch wesentlich steiler werden wird, und auf der anderen Seite noch steiler nach unten geht. Nebenbei erzählen sie, dass sie bereits seit 2009 durch Europa fahren.

Und da glauben wir, wir wären lange unterwegs!

Unten Rully, oben wir.

Die Abfahrt nach Rully ist tatsächlich so steil, dass wir mit angezogenen Bremsen fahren müssen (und es an manchen Stellen trotzdem auf über 20 km/h bringen). Der Weg zu unserem Hotel ist gut ausgeschildert, es liegt mitten im Ort, es ist das einzige am Ort, es hat Charme und verspricht lecker Essen.

Der Platz vor dem ersten Haus am Platz.
La lampe de la chambre de charme.
L'escalier de charme.

Über das Essen hatten wir bereits in einem Internetforum gelesen, es sei „to die for“, das möchten wir natürlich nicht, aber was wäre das Leben ohne Risiko.

Das Mikado-Messer: sieht nicht besonders aus, ist schwer zu platzieren und trotzdem weit verbreitet.

Wir nehmen das große Menu, das haben wir bergauf verdient, und zum Hauptgang einen Roten aus dem Ort (nein, nicht den Bürgermeister):

Gambas grillée,
Foie gras de canard mariné au Porto blanc,
compotée de poire au vin et son pain brioché aux fruits secs
Minute de noix de Saint Jacques au Rully blanc 
et son risotto crémeux
Granité au Marc de Bourgogne
Filet de Bœuf charollais aux morilles
Plateau de fromages frais et affinés
La carte des desserts

Die Jakobsmuscheln sind ein Knaller, das Risotto dazu ebenfalls. Das Granité kommt derart locker daher, dass man darüber nachdenken sollte, lieber doch kein Eis mehr selbst zu machen, und das Filet de Bœuf ist superb. Als dann noch die kleine Käseauswahl vor uns steht, stellt sich die Frage, ob man vor Freude oder in Trauer über deutsche Käsetheken weinen soll. Viele Käse, von denen wir noch nie gehört haben. Andere, deren Namen wir kennen, hier aber in Art, Umfang und Reife, die wir nicht für möglich gehalten hätten.

Es wird Zeit fürs Bett.

Ach ja, der Wein war auch lecker.

20.07. Jour de repos: Nuits-Saint-Georges–Nuits-Saint-Georges (70,38 km, 3:30:04) (Partageons la route)

„Was macht der Punk in Beaune?“

Wer länger bleibt, darf morgens auch länger liegen bleiben. Das machen wir, denn wir müssen Zeit vertrödeln. Unsere nächste vorgebuchte Station erwartet uns nämlich erst am Freitag. Also heute Ruhetag, und der fängt mit einem deutlich überteuerten Frühstück unerwartet schlecht an. Die Butter hat das Verfallsdatum wohl schon länger überlebt, das „Buffet“ ist eine lieblos drapierte Orgie von abgepacktem Zeug, es ist einfach ärgerlich!

Gut, dass es wenigstens rundum viel Schönes gibt, da machen wir uns bald auf den Weg. Auf der D974 fahren wir südwärts in Richtung Beaune, es geht ziemlich auf und ab, aber ohne Gepäck kommt man leichter auf Touren und entsprechend schnell vorwärts. Mo geht es (wie immer) zu schnell, gleichzeitig regt sie sich über die Laster auf, mit denen wir uns die Straße teilen (müssen).

Mit den Autofahrern ist es wie mit allen anderen Menschen auch: die einen wissen, was sie tun, die anderen nicht. Die Fähigkeiten von Köchen, Metzgern, Friseuren, Sängern usw. kann man jedoch oft schon vor dem ersten Kontakt prüfen, und wenn man mit ihren Leistungen unzufrieden ist, geht man einfach nicht mehr hin. Was Autofahrer können, erfährt man dagegen erst, wenn man ihnen zum ersten Mal begegnet, und wenn ihre Leistung nicht zufriedenstellend ist, geht man anschließend vielleicht nie mehr irgendwo hin.

Die D974 ist nicht irgendeine Straße in Frankreich, sie ist an dieser Stelle die „Route des Grands Crus“. Und der Franzose hat sie alle der Reihe nach und schön übersichtlich geordnet rechts der Straße für uns aufgestellt. Inzwischen haben die Rebstöcke auch schon weite Flächen links der Straße in Besitz genommen, wenn es so weitergeht, wird der Burgunder irgendwann vor den Toren Wiens stehen.

Kosten??

Nach 17 Kilometern erreichen wir Beaune, die Kapitale des Burgunders. Hier kostet die 1,5-Liter-Flasche Vittel im Supermarkt nicht plus/minus 50, sondern 94 Cent. Hier hört man die Menschen Deutsch, Niederländisch, Englisch, Spanisch und Asiatisch sprechen, die Landessprache hört man in den Geschäften, sonst eher selten.

Wir leisten uns zum Wasser noch zwei kalorienreiche Backwerke, suchen uns eine Bank in der Fußgängerzone und schauen ein bisschen den Menschen zu. Eine Frau schiebt einen komplett verkleideten Kinderwagen vorbei, vorne eine Plastikfolie als Fenster, dahinter sitzt der Hund der Familie und blickt durch. Eine Gruppe junger Amerikaner geht vorbei, das einzige weibliche Mitglied nimmt parallel an zwei internationalen Wettbewerben teil: a) Wer trägt die kürzesten Hotpants? und  b) Wer hat die dicksten Oberschenkel? Und sie hat sehr gute Chancen, bei beiden Veranstaltungen ganz weit vorne zu landen.

Als dann die schwarzgekleidete Frau mit den blauen Haaren, den selbstgestrickten Wollstrumpfhosen in Regenbogenfarben (Farbwechsel alle zehn Zentimeter aufwärts) und den adrett gekleideten Eltern vorbeikommt, stelle ich die Frage „Was macht der Punk in Beaune?“ Antwort von rechts: „Na, der braucht auch mal Urlaub.

Remmidemmi am Hôtel-Dieu.
Dem unbekannten Trinker.

Von Beaune geht es nach ca. einer Stunde weiter in Richtung Santenay, bei der Monstertraube von Puligny-Montrachet fahren wir rechts rein, stramm hinauf und auf alten Wirtschaftswegen durch die Weinberge. Einmal oben angekommen, fährt man die Weinkarte in sanften Windung und milden Auf- und Abfahrten nach Norden.

Grands Crus, Grande Route.
Der goldene Spross.
Hier wusch man früher die schmutzige Wäsche und eine Hand die andere.
Aloxe-Corton, wird hier nur en carton verkauft (wenn überhaupt).
Anschauen ja, aber nicht anfassen.

Kurz vor NSG ist der Spaß zu Ende, und Mo hat sowieso keine Lust mehr. Es ist bereits nach vier, jetzt ruft das Cassisium, und die Dame an unserer Rezeption meint, man müsse auf jeden Fall vor fünf da sein, um alles in Ruhe erleben zu können. Mehr als ein bisschen frischmachen ist also nicht drin.

Das Hotel schenkt uns einen Eintritt, das ist gut so, hätten wir beide bezahlen müssen, wären wir noch unzufriedener gewesen. Auf den ersten Blick ist die Idee dieses „Museums“ gut. Der Cassis ist ein wichtiges Produkt der Region, hat weltweit einen guten Namen und schmeckt lecker. In den ersten beiden Räumen macht es auch noch Spaß zuerst sehen wir einen Zusammenschnitt von Szenen aus französischen und internationalen Filmen, in denen der Cassis eine Rolle spielt, danach eine didaktisch gut gemachte Führung zur Entwicklung der Pflanze und der Produktion des Likörs sowie einen Schrein mit alten Flaschen, Rezepten und sonstigen Devotionalien.

Früher konnten auch Holländer und Engländer Cassis, ...
... aber nur der Franzose hatte das richtige Rezept.
Und heute gehört das alles Cointreau.

Das Anschauen wird jäh unterbrochen, alle Besucher müssen einen weiteren Film gucken, der alle Informationen der ersten beiden Räume nochmal (vorsichtig formuliert) kindgerecht aufbereitet. Mit tanzenden Cartoon-Beeren und ähnlichen Unannhemlichkeiten. Der Rest der Veranstaltung findet zwischen Stahltanks statt und bringt leider wenig weitere Neuigkeiten. Am Ende folgt der obligate Durchmarsch der Boutique mit Verkostung und Verkaufsabsicht.

Wir kennen das Prozedere natürlich auch von anderen Anbietern, wie z.B. Veuve Ambal. Deren Unternehmens- und Produktpräsentation ist aber um einiges durchdachter und professioneller, der Aha-Effekt deshalb um einiges größer.

Wird Zeit, dass wir ins Hotel kommen, das Essen wartet. Auch heute wieder das volle Programm an den Nachbartischen. Gegenüber eine sprachlose Familie aus Vater, Mutter, Sohn, die erst zum Leben erwacht als Vaters iPhone klingelt und danach das iPad benutzt werden darf. Der Sohn scheint technisch sehr weit vorn, hatte aber wohl nie eine Gebrauchsanweisung für Messer und Gabel. Links eine belgisch-niederländische Familie mit drei Kindern von ca. vier bis acht Jahren, rechts ein holländisches Paar mit einer Tochter von ca. eineinhalb Jahren. Rechts kann man zuschauen, wie die kleine Prinzessin den fein gemachten Papa und die schwangere Mama für das weitere Zusammenleben konditioniert, links sehen die drei anderen Kinder diesem lauten Treiben fassungslos zu.

Der Vater mit den knisternden Scheinen ist heute nicht da, man hätte ihn auch kaum gehört.