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Donnerstag, 8. Juni 2023

La France avecque ... la grande désillusion

Ein wirklich eindrucksvoller Radweg


8. Juni 2023


Die Möwe lacht ab 5.32 Uhr.


Während wir frühstücken, laufen über die Tonanlage Eurythmics und En Vogue (with Salt 'n' Pepa) gefolgt von einer Klavierimprovisation von entweder Thelonius Monk oder Jacky Terrasson – auf jeden Fall ein sehr abwechslungsreiches Programm.


Um uns herum wischt ein Mitarbeiter das Mobiliar. Erst pfft-pfft aus der Sprühflasche, dann sauber- bzw. trockenwischen. Natürlich zuerst den Tisch, dann die Stühle. Beim nächsten Tisch wiederholt er die Prozedur. Natürlich mit dem gleichen Lappen.


Auch für den Weg aus Saint-Gilles-Croix-de-Vie bitten wir Garmin um Unterstützung, leider mit zweifelhaftem Ergebnis. Das liegt aber auch an der Aufgabenstellung. Wir beordern ihn an den Startpunkt der Strecke, und der liegt nun mal auf der anderen Seite der Brücke. Also fahren wir rüber, schauen uns nochmal das Elend an und gondeln dann wieder zurück.


Der heutige Weg ist dem gestrigen nicht unähnlich: viel Staub, wenig Weg, viel Sand, wenig Weg. Das mag ganz nett sein, wenn man im Hotel ein Rad leiht und zum Zeitvertreib ein Stück nach links oder rechts an der Küste lang fahren möchte. Wir versuchen, ein Stück zu fahren, gehen dann aber doch genervt wieder auf die Straße. Für Radreisen sind solche Wege einfach ungeeignet.


Im Hafen von Les Sables d'Olonne liegen die Boote, wie die Touristen in ihren Apartments


Auf der Straße ist es aber auch nicht einfach, denn sie ist nicht so breit, dass ein Fahrrad und ein Auto bequem nebeneinander passen. Da keiner von uns die Verantwortung für die Misere tragen will, kriegen wir uns erst mal ein bisschen in die Haare, finden dann aber doch eine Möglichkeit, auf einem anderen Radweg ein gutes Stück voran zu kommen.


Was wir unterwegs sehen, ist erschreckend. Denn wir fahren auf kleinen Sträßchen abseits des „offiziellen“ Weges quasi durch die Hinterhöfe des Strandlebens. Dort gibt es jede Menge Häuser, fast alle derzeit unbewohnt, an fast allen wird die Ankunft der Eigner bzw. Mieter vorbereitet. Hier wird der Pool gereinigt und befüllt, dort die  Fassade gestrichen und dort drüben justieren zwei Herren das Tor zur Einfahrt.


Zum einen sind die Häuser selbst ziemlich hässlich, vielfach abgewohnt, vielfach außenrum ungepflegt. Zum anderen ist der Flächen- und Ressourcenverbrauch für zwei Monate Nutzung unverantwortlich. Denn es sind ja nicht nur die Häuser selbst, sondern auch Straßen, Ver- und Entsorgung, Licht usw., was gebaut werden muss. Und zum Dritten kann man recht deutlich sehen, wie eine nachvollziehbare, individuelle Idee (hier ist es schön, hier will ich sein), zu schrecklichen Konsequenzen führt.


Die Gattin zieht irgendwann ihre persönlichen Konsequenzen und ruft von hinten: „Ich will nie wieder hierher!“


Wo es früher mal schön war, werden immer die gleichen Fehler gemacht


Von Bretignolles-sur-Mer kommen wir gut nach Brem-sur-Mer. Da ist zwar auch ein bisschen D80 dazwischen, aber das funktioniert prima. Unser nächstes Ziel ist Les Sables d'Olonne, das wir in der Folge mindestens viermal verlassen werden, weil es über die Jahre in immer neue Ortsteile mutierte. Die meist dreistöckigen Art-Deco-Schönheiten an der Wasserfront werden heute eingerahmt von sechs- und mehrstöckigen Kästen, viele davon noch nicht alt, aber viele schon in einem beklagenswerten Zustand.


Nachdem wir die Batterien für unsere Pedale auch bei Decathlon und Brico E.Leclerc nicht bekommen haben, finden wir wenigstens einen schönen Platz am Hafen, wo wir Mittag essen können. Auch hier fragt man sich beim Rumgucken die ganze Zeit, wie schrecklich es im Sommer sein wird.


Wo Meer und Himmel eins werden


Bei solchen Gelegenheiten denkt man auch über sich selbst nach. Mit jedem Tag der Reise gewöhnen wir uns mehr an dieses Leben abseits  des Lebens. Prozesse werden klarer und einfacher, Routinen entwickeln sich. Das Schöne ist, dass man ständig mit Unbekanntem, mit Überraschendem konfrontiert wird, dass man sich ständig neu justieren, neu positionieren muss. So hält man den Kopf am Laufen und richtet sich gleichzeitig in einer unsicheren Situation ein. Man lebt quasi in zwei Welten gleichzeitig und fährt dabei noch Fahrrad.


Genug gedacht. Auf Höhe von Talmont-Saint-Hilaire führt der Weg in eine wunderschöne Marschlandschaft. So richtig gut ist er zwar auch nicht, aber das hier ist eine tolle Entschädigung für das Übel von heute Vormittag. Auch, wenn auf dem Weg plötzlich 20 Leute mit gelben Westen in der Ferne auftauchen. Wir sehen zu, dass wir Land gewinnen.


Kurz vor Verlassen des Marais sprechen wir noch mit einer dort wirtschaftenden Französin. Sie erklärt uns das biologische Prinzip der Marsch – Süß- und Salzwasser mischen sich hinter der Küste – und deren wirtschaftlichen Nutzung, die Fischzucht. Unsere Befürchtungen bezüglich der niedrigen Wasserstände kann sie zerstreuen. Das Wasser im Marais unterliegt wegen der Verbindung zum Meer den Gezeiten. Was wir gestern und heute gesehen haben, war einfach bas-marais.


Süß- und Salzwasserfische in gleicher Umgebung


Nach dem Marais fahren wir ein Stück Landstraße in Richtung Jard-sur-Mer, wo wir im Zentrum einen Café crème trinken. Unterwegs dorthin passieren wir ein junges Elternpaar mit ihren Rädern, den zwei Anhängern – und dem Filius, der gerade mal stehen kann. Schon mutig, einen solchen Zwerg so durch die Welt zu kutschieren. Andererseits: Man will / muss / sollte den Nachwuchs ja auch auf die Realität vorbereiten.


In der folgenden Abfahrt rasen wir durch Fliegenschwärme, die überall auf dem Sonnenschutzmittel und den Klamotten kleben bleiben. Ich würde mich gerne mit ihnen fotografieren lassen, aber kaum halte ich an, fliegen sie weg.


Auf den letzten Kilometern bis zum Ziel locken uns die Franzosen wieder auf ihre sandigen Pisten. Es hat in dieser Ecke geregnet, da staubt es weniger, da klebt es mehr. Länger als zwei, drei Kilometer machen wir das Theater nicht mit. Bei der Plage des Conches fahren wir raus auf die D105, der wir bis ins Hotel folgen.


Der Empfang ist freundlich, die Fahrrad-Garage ist auf Elektromobilität vorbereitet. Das Hotel ist optisch wie technisch etwa auf dem Stand der Zähne der Chefin. Alles schon etwas älter, funktioniert aber noch. Man  müsste mal grundlegend investieren.


Heute ist übrigens ein ganz besonderer Tag.


Zum ersten Mal seit dem 17. Mai werde ich meiner Frau beim Abendessen in einem anderen Hemd gegenüber sitzen. Ich bin gespannt, ob sie mich a) überhaupt erkennt und b) welche Konsequenzen das haben wird.


Anfangs reiner Schrecken, später pures Vergnügen