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Donnerstag, 12. Juli 2012

19. Mai 2012, der zehnte Tag: Beaucaire–Palavas-les-Flots, 93,69 km

Stürmische Zeiten

Auf das „Kissdellafruhstuck“ verzichten wir. Stattdessen kommt das übliche Sammelsurium von NescaféPain au laitComtéJoghurt und Banane zum Einsatz.

Um neun Uhr fahren wir den Hotelberg hinunter, auf dem Bürgersteig der anderen Straßenseite plagt sich ein Jogger, der unbedingt mit mir mithalten will, und das schon am frühen Morgen! Meine Gattin sollte sich ein Beispiel an ihm nehmen. Irgendwann geht es so steil bergab, dass er nicht mehr mitkommt, ich winke fröhlich, beim nächsten Rond point fahren wir rechts ab auf die Route de Saint-Gilles, der wir bis in den gleichnamigen Ort folgen.

Gleich in der ersten Bar nehmen wir zwei Cafés und fragen nach einer Einkaufsmöglichkeit. Madame schickt uns zum Carrefour am Ortsausgang, was uns einiges an Zeit kostet, dafür aber mit einer wilden Mischung aus Kundschaft belohnt. Ich halte beide Räder fest und das Gepäck im Auge, während Mo sich ins Getümmel stürzt (und dort lange bleibt). Mir fällt auf, dass der Supermarkt schon am Eingang deutlich darauf hinweist, dass Laden und Umgebung video-überwacht werden. Wenn ich mich umschaue, kann ich das verstehen.

Zurück im Ort fragen wir zwei Plakatkleber im besten Mannesalter (also etwas älter als ich) nach dem Weg, sie schicken uns geradeaus über die Brücke und die Eisenbahnlinie. Direkt danach geht es rechts auf die D179 und damit in eine andere Welt.

Vier Liegeplätze des Glücks

Unsere Straße führt im Zickzack durchs Gelände, der Wind weht zum Teil heftig, und wir düsen vom Verkehr weitgehend verschont an Reisfeldern vorbei, sehen zahllose Vögel, die wir nicht benennen können, die sich aber offensichtlich sehr gut in dieser Gegend ernähren können. Irgendwo mittendrin hat ein Belgier sein Auto verlassen und geht auf die Pirsch. Mit seiner Kamera und einem Teleobjektiv, das diesen Namen wirklich verdient.

Beim Centre du Scamandre biegen wir links ab und sehen zur Belohnung die ersten Camargue-Pferde. Nicht viel weiter treffen wir westlich wir auf die D58, die sichtlich darauf ausgelegt ist, möglichst viele Besucher möglichst reibungslos nach Aigues-Mortes zu bringen. Und ebenso reibungslos wieder weg. Wir machen an einem Weg rechts der Straße Mittagspause. Kurz vor der Weiterfahrt klingelt das Telefon, und wir erfahren, dass unser lebloser Rechner morgen nach Deutschland überführt wird. Mal sehen, ob wir ihn je werden reanimieren können.

Tote Wasser sind voll

Aigues-Mortes ist uns zu voll, wir schauen nur kurz rein und dann, dass wir weiter kommen. Kaum sind wir um die nächste Ecke der Stadtmauer gekommen, ruft die Dame hinter mir: „Vorsicht, Wind!“, da hat es mich beinahe schon vom Rad gehoben. Wir fahren rechts ran, schauen uns die schnurgerade D979 zwischen den großen Salzseen an und beschließen, die kommenden sechs Kilometer im kleinsten Gang und gaaanz vorsichtig in Angriff zu nehmen.

Ein, zwei Kilometer geht das recht akzeptabel, dann schaltet der Wind zunächst auf Sturm, dann auf Katastrophenmodus und bläst aus östlicher Richtung auf Gepäck und Körper. Beides erweist sich als perfekter Windfang, so wird das Geradeausfahren auf den folgenden Kilometern zum echten Kraftakt, und es bleibt kaum Gelegenheit, ein Auge auf die links und rechts im Wasser stehenden Flamingos zu werfen.

Nach schier endloser Fahrt erreichen wir Le Grau-du-Roi, atmen tief durch, fahren nach rechts über die Brücke und lassen uns von der einen Katastrophe in die nächste schieben.

Ach, du kriegst die Grand Motten ...

In La Grand Motte denken wir darüber nach, mit einem Bus etwas weiter ins l'Herault zu fahren, am besten gleich bis nach Lodève. Der Busfahrer hält das für keine erfolgversprechende Idee, denn Fahrräder nehmen die hiesigen Busse nicht mit. Und selbst wenn wir einen kooperativen Kollegen fänden, wäre das Ganze immer noch kaum realisierbar, denn der Weg führt über Montpellier und wir müssten mindestens drei Mal umsteigen.

Also verwerfen wir den Gedanken, fahren weiter staunend ins Zentrum dieses malerischen Touristenstädtchens und gönnen uns in einem strandnahen Salon de thé einige Törtchen und zwei Cafés. Auf der D59 fahren wir über Le Grand Travers motteauswärts; der Weg führt direkt am Strand entlang bis nach Carnon und nach einem kleinen, für Fahrräder verbotenen Schlenker über einen Hauptverkehrskreisverkehr weiter nach Palavas-les-Flots.

Die gesamte Strecke führt durch überwiegend auf dem Reißbrett entworfene Siedlungen, die eher an Massentierhaltung als an Urlaubsidylle denken lassen. Der fast schon bösartige Wind und die mit ihm ziehende, geschlossene Wolkendecke verstärken den trostlosen Eindruck. Irgendwer hat ausgerechnet für heute einen Halb-Triathlon terminiert. Die Aktiven, die uns auf ihren Hightech-Rädern entgegenkommen, können einem wirklich leid tun.

Willkommen in den schönsten Wochen des Jahres

Im örtlichen Office de Tourisme erbeuten wir einen lokalen Hotelführer, die ersten beiden Ziele scheiden nach persönlicher Ansicht aus, beim dritten Versuch werden wir heimisch. Das Mädel an der Rezeption gibt sich viel Mühe mit uns, die Chefin erlässt uns die Parkgebühr von je einem Euro, weil sie den umweltfreundlichen Aspekt des Radtourismus' fördern will.

Fürs Abendessen gibt man uns zwei Empfehlungen mit auf den Weg, die erste Adresse ist nicht unteuer, da gehen wir lieber zur zweiten. Im Le Saint-Georges stehen zwei besetzte etwa 25 leeren Tischen gegenüber, ein Jüngling in schwarz fragt nach unserer Reservierung und bietet uns, da wir keine haben, den kleinen Tisch direkt im Eingang an. Den mögen wir nicht so, aber alle anderen sind nach seiner Aussage reserviert. Man trennt sich in gegenseitiger Verachtung.

Also doch in die teurere Alternative. Die Umgebung riecht zwar bedenklich nach Touristenfalle, aber dann geht's hinten raus und eine ansehnliche Treppe hoch. Vor uns eine sehr heterogene Gruppe von etwa 15 Personen, die der Oberkellner im Vorraum begrüßt und deren Jacken er in einem aufnahmefähigen Garderobenschrank verstaut. Unsere Regenjacken finden dort ebenfalls Platz, denn wir werden ohne Reservierung und sehr freundlich aufgenommen.

Hässlicher Ort mit schöner Aussicht

Der Oberkellner lässt uns durch einen seiner Unterkellner im Restaurant platzieren. Ich höre „Table 35“, rechne sofort mit dem Schlimmsten (Katzentisch am Klo) und werde bitter enttäuscht: Wir sitzen neben der 15er-Gruppe, haben freien Blick aufs Mittelmeer und kommen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

Die Karte ist sehenswert, die Menüs sind vielversprechend. Mo beginnt mit einer tollen Fischsuppe, isst danach ein Doradenfilet und zum guten Schluss ein feines Parfait. Ich fange mit einer asiatischen Jakobsmuschel-Variante an, freue mich anschließend über gebratenen Rascasse und Brioche perdu. Der vom Keller empfohlene Wein passt wie für uns vergoren, der Service ist nicht von dieser Welt – nur gut, dass uns der Jüngling vorhin keinen besseren Tisch angeboten hat.

Draußen spuckt das Meer wellenweise Wasser aufs Land, der Sturm biegt die Palmen waagerecht und reißt ihnen die wenigen Büschel aus, die sie noch haben. Wir schauen dem Treiben lange von unserem Fensterplatz aus zu, dann treten wir glücklich den Rückweg an.

Leuchte er uns heim!

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