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Donnerstag, 31. Mai 2018

Stadt, Land, Fluss - 5. Tag: Sonne, Schafe, stille Schönheit

Das Frühstück am nächsten Morgen wird problematisch, denn die 27 Teilnehmer der Radfahrer-Gruppe plündern das auf kleine Einheiten, die nacheinander kommen, eingerichtete Buffet wie ein Schwarm Heuschrecken.

Die Servicekräfte und der Koch bemühen sich zwar redlich, werden des Missstands aber nicht Herr. Hier hat einfach die Restaurant-Leitung versagt, die einen solchen Ansturm nicht auf Kosten der anderen Gäste bewältigen, sondern die im Voraus bekannten, höheren Anforderungen durch entsprechende Maßnahmen hätte abfedern müssen.

Wir machen, dass wir zunächst zum ALDI gegenüber (Obacht: neues Ladenkonzept, sieht jetzt aus wie bei Lidl) und dann auf die Piste kommen.

Raus aus der Stadt, rein ins Vergnügen

Auf dem Weg in Richtung Besandten und Unbesandten ertönt von hinten eine bekannte Stimme: "Ich habe den Schlüssel zum Fahrradschuppen nicht abgegeben."

Nicht abgegeben bedeutet in diesem Fall vor allem: mitgenommen. Und wir sind schon ein ganzes Ende weg von Dömitz. Umdrehen kommt deshalb nicht mehr infrage, also per Post ans Hotel schicken. Und was bedeutet das für alle Radfahrer in den nächsten Tagen: keinen sicheren Stellplatz. Also evtl. ein Taxi. Schwierig, denn in dieser Gegend gibt es keine Taxis, es müsste wahrscheinlich aus Dömitz kommen. Und wir müssten warten, bis es kommt.

Oder wir fragen einen lokalen Handwerker, der heute oder morgen noch nach Dömitz muss. Das geht auch schlecht, denn der Weg ist inzwischen weit weg von den Behausungen. Was bleibt? Ganz einfach: entgegen kommende Radfahrer. Die kommen nämlich alle direkt am Hafen der Stadt vorbei.

Ein kleines Paradies für Tiere aller Art

Und wir haben Glück: Kurz hinter Unbesandten brettert uns eine dynamische Mittvierzigerin auf ihrem Pedelec entgegen. Auf Handzeichen bremst sie ab, kommt zurück und wir schildern unser Problem. Sie ist sofort bereit, den Schlüssel zu übernehmen und am Hotel abzuliefern; ihr Mann (kommt etwas später und mit Hänger) ist gerne mit von der Partie. Die Einladung auf einen Kaffee lehnt sie empört ab.

Sie erzählen, was sie, und wir erzählen, was wir so machen. Das dauert einige Zeit, macht aber Spaß. Hinterher fragen wir uns, warum wir nicht Adressen getauscht haben.

Eine einschneidende Begegnung

Nachdem dieser Schrecken verarbeitet ist, lauert rechts des Radwegs bei Mödlich der nächste: der Fährmann Charon, der laut griechischer Mythologie, die Toten in die Unterwelt bringt. Der Bildhauer Bernd Streiter will mit seiner Metallskulptur zeigen, dass auch die Elbe für viele Jahrzehnte eine Grenze zwischen Leben und Tod war. Wir kommen mit dem Schrecken davon.

Auf dem Deich ist es so still, dass es fast weh tut

Irgendwo zwischendurch nimmt sich ein Schäfer zwei Minuten Zeit für uns. Wir haben ihn beim Befüllen der Wasserbottiche beobachtet, jetzt zäunt er eine neue Weide ein und erzählt, dass er bei Scherkosten von 2,50 Euro pro Schaf (= ca. drei Kilo Wolle) und einem Ertrag von 49 Cent pro Kilo hauptsächlich vom Schlachten und dem Zuschuss der Gemeinden für die Deichpflege lebt, aber trotzdem nicht auf den Mindestlohn kommt.

Inzwischen hat er die ersten Schafe, die ihre Wolle ohne Schur verlieren. Wir haben schon hinter Büsum einige Wollberge gesehen, nun wissen wir, dass es nicht weggeworfene, sondern vom Schaf abgelegte Wolle waren.

Kleines, feines, aber holpriges Müggendorf

Die Strecke ist super - wenn man nicht so viel schauen müsste, wäre man viel schneller

Kurz vor Wittenberge hören wir plötzlich ein langes "Wiiieeh-wiiieeh-wiiieeh-wiiieeh". Es erinnert an einen Franzosen, ist aber einer Gruppe von vier Rotmilanen zuzuordnen, die rechts über uns ihre Kreise ziehen. Wahrscheinlich werden die Kinder gerade ins Jagen eingewiesen, und die sonst eher lautlos operierenden Alten müssen alles drei- oder viermal sagen.

Für einen solchen Anblick reisen andere Menschen nach Afrika

Ex-Industriestandort Wittenberge

Wittenberge ist noch genauso trostlos wie vor fünf Jahren. Es gibt ein paar mehr Beherbergungs-Angebote, aber die Straßen sind leer, die Häuser verfallen, die Menschen mit ihnen.

Eine Postbotin schickt uns zum Einkaufen in den örtlichen "Schwarzen Netto". Das ist an sich schon eine Herausforderung, denn die Läden sehen übel aus. Im Fall von Wittenberge kommt die Umgebung des Marktes erschwerend hinzu: Hier sollte eher eine Abrissbirne stehen als eine Reihe von Einkaufswagen.

Entlang des Gnevsdorfer Vorfluters in Richtung Havelberg

Mit Überschreiten der Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt liegen die Pflastersteine plötzlich anders

Bei Quitzöbel fahren wir über die Grenze nach Sachsen-Anhalt; sofort ändert sich die Verlegetechnik des Pflasters: Auch in Brandenburg werden mit vier Steinen die Eckpunkte eines Quadrats bestimmt, aber dieses wird dann mit geraden Steinen ausgefüllt. In Sachsen-Anhalt werden keine geraden Steine verwendet, dafür erinnert das Innenleben des Quadrats an eine Swastika.

Herzlich willkommen im Land von André Poggenburg.

Über die Havel zur Elbe

Nach der Wehrgruppe Quitzöbel (nein, nicht Wehrsportgruppe!) passieren wir einen namenlosen Weiler, um den herum eine Straßenbaumaßnahme durchgeführt wird, die mit dem legendären Umbau des Frankfurter Kreuzes vergleichbar ist.

Das spüren wir auch auf den kommenden Kilometern. Erst kommen uns große und gut beladene Lkw mit Karacho auf dem Radweg entgegen – einer der Fahrer hält, kurbelt das Fenster runter, heißt uns "in Preußen" willkommen und erzählt ein bisschen von den Zugehörigkeiten der einzelnen Städte zu den drei hier aufeinander treffenden Bundesländern –, dann jagen uns ihre abgeladenen Kollegen mit noch höherer Geschwindigkeit von hinten.

Rad fahren kann ja so schön sein ...

Auf dem Weg zur Stadtinsel Havelberg



Das Hotel in Havelberg haben wir bereits am Vorabend via Internet gebucht. Wie zuvor in Dömitz war auch hier die Rezeption nur per Mailbox erreichbar, anders als in Dömitz rief aber niemand zurück.

Das Haus gefällt uns sehr gut. Das Zimmer im EG ist optimal eingerichtet und hat eine schöne Terrasse. Was etwas stört, ist, dass man die Nachbarn oben und nebenan ziemlich gut hört. Wir duschen, pflegen und ruhen uns ein bisschen aus, um halb acht gibt es Abendessen im hauseigenen Restaurant "Schmokenberg".

Die Kellnerin hat ihren Beruf gelernt, das merkt man gleich. Die Karte macht einen sehr guten Eindruck, leider ist der lauwarme Spargel-Birne-Salat kalt, leider ist das bleu bestellte Fleisch schon fast durchgebraten.

Wir sitzen trotzdem bis halb elf und machen uns Gedanken ums Weiterfahren am nächsten Tag. Das Wetter scheint gegen uns.

96 km Elbauen von ihrer schönsten Seite

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